Erschienen in: Revista Cultura. Fundația Culturală Augustin Buzura, Nr.1/597, Bukarest 2019, S.62-64 in der rumänischen Übersetzung von Codruta Cruceanu.
Ein Besuch der Ausstellung Once in a lifetime. Kunsthistorisches Museum Wien
2. Oktober 2018 – 13. Jänner 2019
Jänner 2019
Es ist Montag. Ein früher Nachmittag im Dezember, die Dämmerung hat eingesetzt. In Wien ist es heute kalt. Ich stehe in der Kuppelhalle des Kunsthistorischen Museums und horche wie sich das einheitliche Gemurmel der Menschentrauben, die auf ihre Abfertigung warten, an den marmornen Wänden entlang, in der Kuppel zu einem monotonen, immer lauter werdenden Summen zusammenbraut, um dann auf mich herabzufallen. Ich muss nicht warten und kann mich alleine an den beseelten Hindernissen vorbeischlängeln. In der rechten Hand unter ständiger Kontrolle und Rückversicherung halte ich mein Timeslotticket fest. Ich nehme zwei Stufen auf einmal während ich mir meinen Weg die Haupttreppe hinauf suche. Als ich meinen Blick endlich aufrichte, hängt vor mir in Überlebensgröße das gestochene Seitenprofil Pieter Bruegels des Älteren. „Endlich“, denke ich seufzend, erhöhe sanft mein Schritttempo und fühle nach meiner Eintrittskarte.
Bruegel ist immer in Wien. Das Kunsthistorische Museum besitzt mit zwölf Bildtafeln, die weltweit größte Sammlung dieses ungewöhnlichen Meisters, die sich unter anderem der Sammelleidenschaft des Hauses Habsburg verdankt und bis auf 1600 rückdatieren lässt. Aus dieser bemerkenswerten Position heraus, hat sich für Wien in den letzten Jahren eine Art logischer, wissenschaftlicher Auftrag entwickelt, der mit diesem Großprojekt realisiert werden sollte. Im Zentrum standen dabei die technologische Aufarbeitung des Wiener Tafelbildbestands sowie kritische Untersuchungen der Provenienz, beziehungsweise eine allgemeine Überarbeitung der kunsthistorischen Forschung zu diesem vielfältigen Künstler. Zudem wurde das Oeuvre unter dem Gesichtspunkt seiner Medialität neu untersucht. Die Begeisterung am eigenen Bestand inspirierte Leihgeber und Institutionen aus aller Welt dazu, ihr kostbares Inventar in Wien zur ersten monographischen Präsentation des Dynastiebegründers Bruegel zusammenzustellen.
Der Andrang ist groß. Ich muss mich gedulden bis mir Einlass in den Sonderausstellungsraum gewährt wird. Während ich mich zu den anderen Wartenden in die Schlange stelle, kann ich meine Augen nicht von dem Bildausschnitt nehmen, der, mehrfach vergrößert, über die gesamte Länge des Eingangsbereichs gespannt ist. Die Figuren reichen mir bis zum Scheitel, ich folge ihren lebendigen Bewegungen und erfasse ihre starke Mimik. Sie grüßen mich, wie alte Bekannte und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihnen in ihr Szenario oder sie mir in die Ausstellung folgen. Als sich meine Warteschlange langsam in Gang setzt erfasst mich ein unbestimmtes Gefühl und bevor ich herausfinden kann was es zu bedeuten hat und aus welchem Gemälde der Ausschnitt stammt, werde ich in den ersten Ausstellungsraum geschoben.
Das Frühwerk. Die Zeichnungen nehmen bereits vorweg, was für ein außergewöhnlicher Meister den Besucherinnen und Besuchern hier vor Augen geführt wird. Seine Originalität als Landschaftszeichner offenbart sich gerade hier in der ursprünglichsten Form der Darstellung. Ohne die Zuhilfenahme einer Farbpalette gelingt es dem Künstler Szenerien zu erschaffen, die nichts von der Eindrücklichkeit und dem Vivace ihrer gemalten, großformatigen Geschwister einbüßen. Deutlich treten aus seinen virtuosen Kompositionen venezianische Einflüsse sowie die Tradition nördlicher Landschaftsdarstellungen hervor um schließlich wieder zu naturgetreuen Hügelketten, Gebirgszügen oder Waldstücken zu amalgamieren. Das Auge ruht nicht lange auf diesen erhabenen Naturansichten, bevor die Details sich ins Geschehen mischen und den Blick leiten. Kleine Figürchen, die auf felsigen Wegen Richtung Bildinneres reiten, Zieglein, die auf Felsvorsprüngen ins Tal blicken oder Pilger die auf ihren Stab gestützt und ihr Ziel vor Augen in die Bildmitte wandern und an dieser Stelle offenbart sich plötzlich das große Faszinosum dieses Künstlers: Bruegel erzählt Geschichten. Und zwar nicht nur eine, sondern immer gleich zwei, drei (in seinen Wimmelbildern, wie etwa Kampf zwischen Fasching und Fasten) oder gleich die ganze Geschichte der Welt (im Turmbau zu Babel oder Zwei angekettete Affen).
Nach den Zeichnungen und Stichen im ersten Ausstellungsraum, bahne ich mir meinen Weg durch die Menschenmassen in den Saal mit den großen Landschaftstafelbildern. Ich weiß schon was hier auf mich wartet und ich versuche einen Blick auf eins meiner Lieblingsbilder zu erhaschen Die Jäger im Schnee. Es ist eine der atmosphärischen Tafeln, die dem Jahreszeitenzyklus angehören und Teil des gesicherten Bestandes des Museums sind. Erstmals werden hier vier der ursprünglich sechs Gemälde wieder gemeinsam gezeigt. Dieses Bild kenne ich auswendig: es zeigt eine Winterszenerie mit einem schneebedeckten Dorf, dem zwei zugefrorene Teiche vorgelagert sind und auf denen viele Dorfbewohner Schlittschuh laufen. Im Hintergrund wird das Dorf von einer Gebirgskette umrahmt, die das Gegengewicht des prominenten Bildvordergrunds ist: einen kleinen Fuchs erbeutet, kehren zwei Jäger mit ihren Hunden von der Jagd zurück. Ihren schweren Fußstapfen im Schnee folgend, begibt sich der Betrachter mit ihnen auf den Weg ins Dorf. Dieses Bild habe ich bereits als Kind verstanden. Ich habe verstanden was es will, ohne zu wissen, was der Künstler wohl intendiert hat. Ich war gemeinsam mit den Dorfbewohnern auf dem Eis, habe mit den Kindern Eisstockschießen gespielt und die Raben aufgescheucht, ich hatte Angst vor den Jägern, aber Freude an dem schönen eisblauen Winterhimmel und wenn die zwei Alten auf ihrem Eisschlitten zu nahe kamen, habe ich mich hinter den Bäumen versteckt. Alles war lebendig und ich war Teil des Ganzen und das ist es, was bis heute, da ich versuche als Erwachsene, zumindest eine kleine Ecke des Himmels aufzuschnappen, die große Faszination ausmacht. Breugel erzählt selten Einzelschicksale und wenn, dann folgen auch sie einer unterstellten Didaxe. Als guter Erzähler formuliert er seine Protagonisten so konkret wie nötig um einen Identifizierungsspielraum zu schaffen und bildet dann in ihrem Verhalten metonymisch eine Handlung ab, die er moralisierend fokussiert. In irgendeiner seiner Figuren fühlt man sich immer ertappt, denn sie schillern in allen Facetten menschlichen Unvermögens. Er bietet jedem Charakter ein Kostüm und jeder Situation eine Gelegenheit und letztlich kriegt er uns alle, ob wir es wollen, oder nicht.
Ich gebe auf, weil ich weiß, dass ich diese Tafel bald wieder in aller Ruhe an ihrem gewohnten Platz bestaunen kann und ziehe weiter. Mein Augenmerk bleibt an einem Bild hängen, das zunächst aufgrund der Masse des Inhalts überwältigt: Kampf zwischen Fasching und Fasten. Zu sehen ist der Hauptplatz einer Stadt, der sich zwischen Gasthaus und Kirche aufspannt. Dazwischen vollzieht sich innerhalb kleiner Gruppierungen der Übergang von Fasching zu Fasten. Die personifizierten Antipoden Herr Fasching und Frau Fasten werden einander auf ihren grotesken Wägen in der Mitte des unteren Bildrandes entgegengeschoben während sie von ihren jeweiligen Anhängern metaphorisch beziehungsweise allegorisch unterstützt werden. Der Detailreichtum dieses Bildes ist an dieser Stelle kaum in Worte zu fassen. Nicht weniger interessant als die kleinen Episoden ist jedoch die Gesamtwirkung des Bildes. Der Inhalt vollzieht sich in erster Linie über die Leiblichkeit der Figuren und den Bezug ihres Leibes zur Welt. Gerade bei diesem Tafelbild bietet es sich an, den Blick durch das Schlüsselloch des Theoretikers Mihail Bachtin zu werfen, der in seinem Aufsatz Literatur und Karneval über die Komik des Grotesken und das karnevalistische Weltempfinden als Konsequenz eines kollektiven Lebensmodus nachdenkt. Wie es bei Bruegel oft der Fall ist und vor ihm bei seinem Vorbild Hieronymus Bosch spielt er diesen Bezug des Leibes zur Welt gerade über das Groteske. Das ist natürlich stärker in jenen Gemälden zu sehen, die das Groteske im Sinne eines unabgeschlossenen Leibes antizipieren und ihn als metamorphen Ausgangpunkt verstehen, der die Welt verschlingen und in sich aufnehmen kann und auch von ihr verschlungen wird[1]. Zum Beispiel in die Dulle Griet oder Triumpf des Todes. Im Kampf zwischen Fasching und Fasten erleben wir das Groteske, als Teil des Karnevals, den Bachtin unter anderem als „umgestülpte Welt“[2] versteht, wie sie sich im liturgischen Jahr an den Feiertagen zeigt oder umgekehrt. Im Augenblick des Gemäldes, das den bevorstehenden Übergang von hemmungsloser Fastnacht und streng reglementierter Fastenzeit darstellt, wird die Dichotomie eines frommen Lebens im Jahreskreis von Feiertagen und Fastenzeiten noch deutlicher: der gläubige Mensch lebte „gleichsam zwei Leben: ein monolithisch-ernstes, düsteres streng hierarchisches geordnetes, von Furcht, Dogmatismus, Ehrfurcht und Pietät erfülltes offizielles Leben und ein zweites karnevalistisches Leben: frei, voll von ambivalentem Lachen, von Gotteslästerung und Profanation […].“[3]
Bruegel zeigt uns hier also einen entscheidenden Moment im Jahresverlauf eines Menschen der nicht nur im übertragenen Sinn die zwei Seelen ausstellt, die in seiner Brust wohnen.
Bevor ich die Ausstellung verlasse, darf ich noch relativ ungestört ein faszinierendes Kleinformat bestaunen Zwei angekettete Affen. Diesem Bild ist beinahe ein ganzes Kabinett gewidmet und Details zu Material sowie Entstehungsanalysen werden gezeigt. Doch mich interessieren diese zwei Äffchen. Exotische Tiere, die an dicken Ketten hängen und den Nussschalen am rechten Bildrand keine Beachtung schenken, im Hintergrund eine Hafenstadt. Wie Bruegel zu diesem Motiv gekommen ist, lässt sich leicht rekonstruieren: Seefahrer haben sie von ihren Reisen nach Europa gebracht. Es ist nicht die einzige Darstellung von Affen die Bruegel verfertigte, doch sicherlich die rätselhafteste. Der Affe als Motiv erfreut sich in der Kunstgeschichte eines nicht unbedingt erfreulichen Rufes, ist er doch mit Übel, Lust, Gier oder Geiz konnotiert. Der Meister hat den Affen in anderen Darstellungen immer wieder menschliche Züge verliehen und ihnen damit ein relativ eindeutiges Narrativ beigestellt. Die Affen in diesem Tafelbild weisen nichts der Gleichen auf und wollen sich nicht recht entschlüsseln lassen. Ich blicke dem Äffchen zur linken in seine großen Augen und frage mich, ob die Wahrheit vielleicht doch in der Verwandtschaft des Menschen zu diesen kleinen Säugern steckt? So wie der Blick des Betrachters an den Tieren vorbei muss um auf das Geschehen dahinter zu schauen, so funktioniert der Blick auf die Welt wohl auch immer nur über den Menschen. Er ist und bleibt der Protagonist in einer Geschichte, in der er sich selbst die Ketten angelegt hat. Prominent, klein und unfrei bleibt ihm der Blick in alle Richtungen offen, auch nach Innen. Zu sich selbst, den Betrachtern. Zu mir.
Ich senke den Blick und verlasse die Ausstellung. Während ich an den alten Meistern vorbeigehe und der schöne Parkettboden unter meinen Schuhen dieses beruhigende Knarren entlässt, wird mir etwas bewusst. Ich halte kurz inne. Das unbestimmte Gefühl des Anfangs kommt zu mir zurück: Wie die winzigen Miniaturen Breugels, bin auch ich nur eine winzige Figur im Angesicht einer überwältigenden Welt.
Ich laufe die Treppe hinunter und verlasse das Museum. Es hat begonnen zu schneien. Ich denke ich werde Eislaufen gehen.
visit: www.revistacultura.ro
[1] Mihail Bachtin (1990): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München, Wien, Fischer Taschenbuchverlag, S. 16.
[2] ebd. S. 49
[3] ebd. S. 57