Vom richtigen Zeitpunkt

oder: Die vielen Wahrheiten der nächsten Generation

erschienen in: Lettre Internationale Nr.95/2015, S.72-74, in der Übersetzung von Codruta Cruceanu.

September 2015

Als das Rumänische Kulturinstitut Wien im April 2015 seine Ausstellungstätigkeit wieder aufnimmt, verschreibt es sich einem ehrgeizigen soziokulturellen Auftrag, der nicht nur ein breites Spektrum zeitgenössischer rumänischer Kunst vorstellt, sondern sich auch, in Zusammenarbeit mit dem Museum angewandter Kunst Wien, auf ein Terrain wagt, das wohl erst dem richtigen Zeitpunkt und einem neu erwachten Verlangen nach Wahrheit bedurfte. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um eine Wahrheit, die sich als Antonym einer Unwahrheit versteht, sondern vor allem auch um Wahrheiten als gesellschaftliche Grundfesten, die sich nach und nach in Rumänien, wie auch in Österreich, neu entwickeln und dabei andere, unzeitgemäße ersetzen.

Die erste Schau im April diesen Jahres, thematisierte die Wechselwirkung von externer Realität und interner Wahrheit im Spiegel dreier Künstlergenerationen. Dan Cioca, Christian Sida und Robert Kötteles zeigen welchen Stellenwert die eigene subjektive Wahrnehmung dieser Welt für das Verständnis selbiger und aller anderen Wahrheiten hat. Dabei treten die drei Künstler in einen multidimensionalen Dialog, der als galantes Beispiel für die bereichernde Vielfalt kritischer Perspektiven auf den selben Horizont herangezogen werden kann.

Dan Ciocas Arbeiten etwa, leben von einer Spannung, die sich immer wieder zwischen seiner abstrahierenden Malweise und der vorangegangenen, konkreten visuellen Erfahrung aufbaut. Er seziert, legt fein säuberlich jede Dimension seiner Beobachtung frei, entnimmt ihr die innerste, unteilbare Struktur und übersetzt sie dann in einer großzügigen, spontanen Pinselschrift auf die Leinwand. Kräftig, akzentuiert und von durchdringender Farbkraft verzahnen sich dabei Flächen, die trotz ihrer dynamischen Erscheinung in sich die beruhigende Stille einer Erkenntnis tragen. Diese Wirklichkeit des Künstlers, die letztlich der Angelpunkt zwischen Abstraktion und tatsächlicher Realität ist, bedingt geradezu die krasse Farbwahl des Künstlers, die wiederum wesentlich für den Eindruck von Spontaneität ist. Impulsiv und eindrucksvoll ergänzen einander Farbe und Form in diesem Wechselspiel der Wahrheiten und fordern zu einer intensiven Befragung der eigenen Befindlichkeit innerhalb dieser Wahrheiten auf.

Während sich bei Dan Cioca das Äußerste nach Innen kehren muss, um wieder nach Außen zu gelangen, zeigt Christian Sida in seinen Arbeiten das tief verborgene Innerste das brodelt, bis zum Überschäumen kocht, um schlussendlich explosionsartig an die Oberfläche zu gelangen. Die berauschende Variation zwischen abstrahierender Formsprache und enträtselter Gegenständlichkeit ist Resultat eines Schaffensprozesses, der die Leinwand als Ort einer freien, reinigenden Auseinandersetzung braucht, um die tief verborgenen, vielfältigen Schichten seiner Existenz offen zu legen. Starke Emotionen, sein Lebensgefühl, seine Ängste, seine Verunsicherungen entladen sich in berauschenden, mitreißenden Farben und manifestieren sich gleichzeitig in der Auflösung kompakter Formen und Strukturen. Spontan und sehr persönlich gelingt es Christian Sida dabei, sich nicht nur menschlich, sondern vor allem auch künstlerisch immer wieder neu zu erschaffen. Neue Themen, neue Leitmotive, neue Zyklen entstehen aus einer emotionalen Konfrontation mit dem Selbst in der Welt.

Sei Christian Sida die These und Dan Cioca die Antithese, so darf Robert Kötteles, in dieser Gegenüberstellung wohl als Synthese bezeichnet werden. Der Jüngste unter den drei Künstlern zeigt das Äußerste des Äußersten, quasi eine Hyperrealität, die er als Verflechtung von geometrischen, abstrakt konstruierten Systemen und malerischer Improvisation darstellt. Die virtuosen, von freier Hand präzise gezogenen scharfen Kanten sowie seine sternförmigen Raster, positionieren sich gegen die weich geführten Pinselstrichte und die besonnene Farbwahl. Der freie ungezwungene Farbverlauf scheint die vermeintlich rigorose Beschränkung durch die geometrischen Kleinstformen, durch diese feinen durchkonzipierten Netze, geradezu aufzusprengen. Kötteles Vernunft hinterfragt die Dinge nicht bloß wie sie heute sind, sondern wie sie morgen sein werden, gerade weil sie heute so sind wie sie sind. Im Spiegel all der exponentiellen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, durchbricht er das Verlangen nach einer einzigen absoluten Wahrheit und formuliert dadurch eine neue Ästhetik der Vielfalt.

Im Juli folgte dann die Einzelausstellung eines Künstlers, der Gefangenschaft und Freiheit im Verhältnis zum Körper durchexerziert. Botond Részegh setzt sich in seinem Zyklus Nightfall intensiv mit der menschlichen Existenz als Reflex einer bipolaren Schizophrenie auseinander, die für ihn stets zwischen dem Angebot einer natürlichen Freiheit und dem Wunsch nach freiwilliger Unterjochung pendelt. Diese Dichotomie des Seins übersetzt Részegh mittels Formvokabular und Gestaltungsprinzipien, die alles andere als nebensächlich sind, in sein Werk. Aus dem schwarzen Raum treten feurige, gesichtslose Köpfe an die Oberfläche, die sich gleichermaßen zum Symbol der Bedrohung, der Angst, der Gewalt, Grausamkeit und des Zynismus fortentwickeln. Totenschädel umgeben von Gliedmaßen, die sich in kodifizierten Gebärden im Dunkel verlaufen, erinnern ein letztes Mal an den stummen Schmerz von Opfer und Täter gleichermaßen.

Der plastische Diskurs des Künstlers als Ausdruck einer beklemmenden Freiheit, zielt auf die Befragung der emotionalen Verfasstheit ab, die sich beim Anblick der leeren, dunklen Räume in deren Gefangenschaft die brennend blutenden, blinden Augen in ihrer merkwürdigen Einsamkeit auftauchen, einstellt.

Seine Kunst als entrückte Erinnerung surrealistischer Grotesken und die stark expressive Malweise der losen Körperteile stellen Horror und Beklemmung zurück in eine Realität, die sich als ein, aus einem anderen Leben, herausgerissenes Stück Wirklichkeit präsentiert. Eine Wirklichkeit die anonym scheint, es aber nur vermeintlich ist: das Leben des mittlerweile in Freiheit befindlichen Mikhail Khodorkovsky ist Basis der systemischen Hinterfragung von Freiheit durch Részegh. Er versteht diese nicht nur als physisches Antonym einer Haft, also als eine körperliche Befindlichkeit, sondern auch als metaphysische Instanz, die vollkommen wertfrei in den Raum gestellt sein möchte.

Im Juni 2015 startete die Vienna Biennale als Initiative des MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/ Gegenwartskunst in Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst Wien, der Kunsthalle Wien, dem Architekturzentrum Wien und departure, dem Kreativzentrum der Wirtschaftsagentur Wien unter Mitwirken des AIT, des Austrian Institute of Technology als außeruniversitärer Forschungspartner, ihr vielschichtiges Projekt mit der Ausstellung Mapping Bucharest. Die Biennale begründet sich zum einen auf dem Impetus, dem Anbruch der neuen, digitalisierten Moderne einen angemessenen Raum zur Befragung, Beleuchtung und durchaus auch Entwicklung zu geben. Zum anderen fußt die Gründung auf dem Erbe Wiens, als einem Zentrum der Moderne, dessen einflussnehmendes Echo sich bis in die heutige Zeit fortsetzt. Wien als topologischer Ort, als Angelpunkt zwischen Ost und West, als Hort geistiger Strömungen und künstlerischer Reibefläche, bietet einen ungesättigten Nährboden für die kritische Auseinandersetzung mit Kunst, Design und Architektur.

Motiv der ersten Vienna Biennale ist die zukunftsorientierte Aufforderung „Ideas for Change“, die vor allem auch die Potenziale und Problemstellungen von Kulturräumen thematisiert wissen will. Bukarest als lebendiges Beispiel des Wandels, reiht sich als erste in den Reigen pulsierender Großstädte, die im Rahmen der Biennale neben Hong Kong, Istanbul, Lagos, Mumbai, New York, und Rio de Janeiro als kolossale Vertreter facettenreicher Kulturen im Umgang mit den Herausforderungen der Moderne und den notwendigen Veränderungen gezeigt werden.  

Mapping Bucharest: Art Memory and Revolution ist ein spannender Versuch, das produktive, kunstträchtige und auch einflussreiche vergangene Jahrhundert Rumäniens bis heute repräsentativ aufzuspannen. 33 Künstlerinnen und Künstler sind in dieser Ausstellung vertreten und erzählen durch ihre Arbeit, die (Kunst-)Geschichte Rumäniens bis in die Zukunft (2016). Art, Memory und Revolution dienen dabei als konzeptionelle Leitmotive, die gleichzeitig auch ein breites Spektrum des rumänischen Selbstverständnisses, die Kultur betreffend, abdecken.

Memory – Erinnerung. Erinnern ist schwierig, wenn die Erinnerung nicht überschwängliche Episoden ausgelassener Heiterkeit bedeutet oder einem programmierten Konsens folgt. Das gilt für die Einzelnen, das gilt für das Kollektiv. Die rumänische Gesellschaft hat ihren ganz eigenen, besonderen Zugang zu diesem Thema, der immer wieder Inhalt wissenschaftlicher Analysen und künstlerischer Auseinandersetzung inner- und außerhalb Rumäniens ist. Dabei handelt es sich meist ausschließlich um die erinnerte Zeit vor, während und auch nach der Revolution. Es ist daher nur schwer möglich die beiden Phänomene Memory und Revolution strikt voneinander zu trennen, sofern man nicht den Ersten von den übrigen möglichen, metaphorischen Wortsinnen trennt und Revolution als Neuerung, Premiere oder Wandlung versteht. Was nun Erinnerung an die Revolution als politischen Umsturz betrifft, findet sich ein herausragendes Kunstwerk in der Ausstellung der Biennale, das einer gewissen Tradition der ironischen Hinterfragung politischer Gegebenheiten Tribut zeugt. 2006, im Jahr der Veröffentlichung des preisgekrönten Kurzfilms A fost sau n-a fost (12:08 Jenseits von Bukarest) konstatiert Ciprian Muresan collagenhaft: „Communism never happened“. Wie auch der Regisseur des genannten Films Corneliu Porumboiu hinterfragt der junge Künstler immer wieder neu die Genese einer artifiziellen Geschichtsschreibung und die ambivalente Reflexion seiner Gesellschaft auf diesen Vorwurf. Er zitiert sich und seine Botschaft eindrucksvoll mit dem Bleistift in großen Lettern auf händisch gefertigten, inhaltlich irrelevanten Festschriften, Manifesten und Propagandamaterialien. Die ironisierenden Leerstellen in seinen Arbeiten dienen einer Entmystifizierung propagandistischer Machtsymbole und während der inszenierte Inhalt in der Dekonstruktion manipulierender Systeme aufgeht.

Art – Kunst. Rumäniens Kunstschaffen ist einflussreich, wichtig für die zentraleuropäische Entwicklung der Moderne und nicht wegzudenken von den avantgardistischen Strömungen damals wie heute. Tristan Tzara, Eugene Ionesco, Constantin Brancusi, sind nur einige der einflussnehmenden Protagonisten ihrer Zeit. In vielen, der im MAK ausgestellten Arbeiten finden sich deutliche Referenzen auf geistige Vorbilder die, durchaus beabsichtigt, eine Ur-Verbundenheit mit der rumänischen Kultur hervorheben sollen – ungeachtet dessen, wo sie sich auslebt. Diese Solidarität mit einer geistigen Vergangenheit ist dabei nicht bloß Zeugin einer banalen Nostalgie, sondern neben einer inspirierten Würdigung immer auch Ausgangspunkt für den Entwurf einer neuen Zukunft. Eugenia Pop etwa ist bei der Biennale mit einer Skulptur vertreten die, repräsentativ für ihre Arbeit, in ihrer Erscheinung und Machart Volkskunst und Moderne zusammenführt. Nicht immer harmonisch, stehen hier zwei Kunstformen beieinander, die den nach wie vor existierenden rumänischen culture clash bereits zu Lebzeiten der Künstlerin kaum besser formulieren konnten: Folklore trifft Facebook, Ikonenkult meets Instagram, Volksglaube needs Google – all das versteht sich als Fortführung dessen, was Eugenia Pop in ihren kontroversiellen Arbeiten weit vor der Digitalisierung angesprochen und objektiviert hat. Nicht zuletzt sind es auch ihre visionären Konzepte feministischer Kunst in Rumänien, die ihr Oeuvre aktueller und auch wichtiger denn je machen.

Einen aussagekräftigen Zugang zur Frage der Geschichtserinnerung öffnet auch Iulia Toma, die mit ihren Erinnerungsstücken ein breites, durchaus genderthematisches Interpretationsspektrum bietet. In der Installation From the blue coat to the flowery housecoat, with a stop in corporate augmented reality, empfindet die Künstlerin Arbeits- und Lebenskleidung eines uniformierten Rumänien nach, dessen Trägerinnen und Träger beispielsweise mit Stolz von ihrer Identifizierbarkeit mit einem konkreten Arbeitgeber berichten. Die kurzen Erinnerungssequenzen sind wie große Labels in die Kleidungsstücke eingearbeitet und damit untrennbar mit den Textilien verbunden. Dadurch wird die Garderobe zum Synonym einer Loyalität, die vom Stoff auf die Haut, unter die Haut, in den Kopf und wie Schweiß zurück in das Material sickert. Die Erinnerung die letzten Endes zurück bleibt, ist nur eine leere, leblose Hülle die fein säuberlich zusammengelegt als Zeugin ihrer Zeit eine Geschichte erzählt, an die sich niemand mehr so recht erinnern kann .

Revolution – Revolution. Revolution sei an dieser Stelle, aus den genannten Gründen, als Neuerung, Wandel oder Premiere verstanden. Rumänien ist in vielerlei Hinsicht revolutionär. Wie bereits im Absatz „Art – Kunst“ angesprochen, waren Impulse aus rumänischen Kulturkreisen maßgeblich an der Entwicklung der Kunst, Literatur und Architektur im 20. Jahrhundert beteiligt. Auch heute ist der Einfluss rumänischer Künstlerinnen und Künstler aus einem gesamteuropäischen Kontext nicht wegzudenken. Mehr denn je scheinen sie dabei ihre enttabuisierende, sozialkritische Verantwortung wahrzunehmen. So auch Dan Perjovschi, der mit seinen In-situ Installationen in soziale Handlungsräume eindringt und geregelte (Sprach-)Systeme aufbricht Revolution on and off entstand eigens an der Glasdachkonstruktion der MAK-Ausstellungshalle und macht einmal mehr das Konzept Sprache zum Bild. Die Vergänglichkeit, die Temporalität, ist dabei ein wesentlicher, nicht zu unterschätzender Teil dieses Kunstwerks und korrespondiert mit jeder einzelnen Zeile seiner Arbeit. Alle Werte ergänzen sich um eine Sterblichkeit: „Revolution on“ – it`s temporary; „Revolution off“ – it`s temporary; „I am an EX and a POST“ – alles Punkte eines Zeitkontinuums, die sich sofort wieder umkehren können. Zeitlichkeit ist gerade in der heutigen hochdigitalisierten Welt ein brandaktuelles Thema, vor allem wenn es darum geht keine (mehr) zu haben. Perjovschi verbündet sich nicht nur mit ihr, sondern auch mit einer Arbeitsweise, die höchst vertraut an die wundersame Art der Kommunikation menschlicher Vorfahren erinnert und damit umso mehr die Schnelllebigkeit des digitalen Zeitalters kontrastiert. Zeitraffung und Dehnung befinden sich in einer unendlichen Modulation. Die moderne Fassade wird zur Höhle, das Bild wird zum Wort aber die Intention bleibt die gleiche: „Seht, was ich euch zu erzählen habe“.

Von Juli bis September ist das RKI Wien Gastgeberin der Ausstellung Megatron, die als Projekt, aus der Zusammenarbeit zwischen Adrian Dan, Razvan Boar und Nona Inescu entstand. Der Verweis auf den gleichnamigen Protagonisten des Zeichentrickfilms aus den 1980er Jahren The Transformers: The Movie und den 2008 mit der Palme d´or prämierten Kurzfilm Megatron von Marian Crisan ist dabei Programm. Thematisiert wird unter anderem die enorme Wucht mit der die westliche Popkultur der späten 80er Jahre und die unterdrückte, unbefriedigte Sehnsucht aus dem Osten, aufeinander geprallt sind. Die Flut der Zeichentrickfilme, die sich nach der Wende jenseits des eisernen Vorhangs ergossen hat, nahm einen entscheidenden Einfluss auf die Ausdrucksformen, der drei ausgestellten Künstler*innen. Ihre Arbeiten sind durchdrungen von Referenzen, Zitaten und Geliehenem, was der Organisation ihres jeweiligen persönlichen, künstlerischen Universums eine globalere Ausrichtung gibt. Die rationalisierte Realität verschmilzt mit Phantastisch- Unwirklichem und bringt dabei regulierte, festgefahrene Vorstellungen zu Fall. Fotografische Dokumentation und Transparenz werden dabei ebenso in Frage gestellt wie Authentizität des Originals oder das Potenzial dekonstruierender Sektion. Erzählt wird nichts, so zumindest das Versprechen, sondern nur abstrahiert. Das jedoch stets unter Wahrung eines konkreten Kontextbezugs. So entstehen jene metamorphen Figuren, die wie blasse Erinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit herüber in eine Gegenwart tröpfeln, die in Wahrheit für Originale keinen Platz mehr frei haben will. Die Figuren von damals bestehen den heutigen Prüfstand nicht, sind aber doch zu wenig fremd, um gänzlich aus diesem Universum hinauszufallen. Dabei waren sie mit dem stillen Wunsch gekommen, wenigstens hier für immer zu bleiben.

Stillstand ist Rückstand, doch ganz ohne Nostalgie funktioniert diese Welt nicht recht. Was bleibt dann? Kleine Hinweise, Spuren und Fährten, Zitate, Andeutungen und Leihnahmen – kurz: das heftig unterdrückte Bedürfnis nach elterlicher Geborgenheit, das in Zeiten adoleszenter Emanzipation und Revolte nur in homöopathischen, selbstbestimmten Dosen gestattet wird. Was die drei Künstler*innen uns alles nicht erzählen wollen, ist umfangreicher als jeder Trickfilm und bezeugt die Pubertät einer neuen Gesellschaft, die sich langsam von den Sehnsüchten ihrer Großmütter und –väter frei macht und in den Schuhen der Eltern eine neue, eigene Reise antritt.

Der richtige Zeitpunkt bestimmt den Lauf der kleinen Dinge genauso wie die Entwicklung der großen Geschichte. Allein seiner Geltung zu Ehren sind hunderte, aberhunderte Gedichte verfasst, Romane geschrieben, Sonaten komponiert und Kunstwerke geschaffen worden. Wie Goethe so treffend formulierte „Es hat alles seine Zeit“. Dies gilt für alles, für jede*n, für ganze Kulturkreise, für Phänomene, für Bewegungen. Das zu wissen, ist die eine Sache. Den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, die wahre Herausforderung. Damit verbunden sind oft unangenehme, mühselige, anstrengende Wahrheiten. Das Faszinierende aber an diesen unangenehmen Wahrheiten ist ihr ungeheures Potenzial, schlagartig zu einem neuen Wertekanon zu avancieren. Das passiert meistens dann, wenn die nächste Generation endlich begriffen hat, dass sie ihre eigenen Regeln macht.

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