Das Ich in Spiegelschrift.

Überlegungen zur Reflexion des Selbst in seiner hoch medialisierten Umwelt.

erschienen in: Lettre Internationale Nr. 100/2016-2017, S. 61-63, in der Übersetzung von Codruta Cruceanu.

November 2016

Im zweiten Jahr seiner wieder aufgenommenen Ausstellungstätigkeit, hat das RKI Wien 2016 ein ehrgeiziges Programm bestritten. Zu sehen gab es diesmal Künstlerinnen und Künstler, die innerhalb der Themen und Inhalte ihrer gezeigten Arbeiten, das Publikum in Österreich mit einem ganz konkreten Fragenkatalog konfrontierten. Die Kunst in Rumänien beginnt sich neu zu identifizieren, neu zu orientieren und ist damit – brand aktuell – auch mit ihren Befunden in einer Gegenwart angekommen, die nicht mehr nur auf die Vergangenheit referiert, sondern sich hermeneutisch selbst betrachtet. Es geht nicht mehr um das Entlarven der Vergangenheit im Gewand des Augenblicks, sondern es geht um den Augenblick und die Konstitution des Ichs in eben diesem Moment. Wie und in welcher Form sich dieses Selbst letztlich aufstellen kann, verdichtet sich in dem erwähnten Fragenkatalog, der sich mit jeder Ausstellung ein Stück weit ergänzt, präzisiert und verdichtet hat. Durch das vergangene Jahr zieht sich also ein substantieller roter Faden, dem dieser Artikel kein Endknoten, sondern eine unbeschränkte Verlängerung sein möchte, zumal es sich um einen grundlegenden Gedanken handelt, der gerade erst zu arbeiten begonnen hat. Florica Prevenda, Gabriela Culic, Valeriu Mladin und die Künstlerinnen und Künstler der Vienna Design Week des RKI rücken das Individuum ins Licht ihrer Beobachtungen, jede und jeder aus einer anderen Perspektive. Was sich hieraus offenbart, ist ein Porträt unserer Gesellschaft, wie es facettenreicher und auch heterogener nicht sein könnte. Wir sehen Geschichten ohne Fiktion, deren Pointe stets in Relation zur Medialität unserer Zeit steht.

Den Anfang des Reigens übernimmt im ersten Quartal des vergangenen Ausstellungsjahres 2016 die Künstlerin Florica Prevenda mit Facing Individuality. Der Titel ist Programm und so werden die Betrachtenden im gedanklichen Dialog mit den anonymisierten Pappmaché-Köpfen sogleich an die Leitmotive der Ausstellung herangeführt: Wer bin ich? Wo fängt Ich an und wo hört es auf? Bin ich ich, weil die Anderen nicht ich sind? Wie eine Litanei ziehen sich diese Fragen durch die in Wien gezeigten Arbeiten Prevendas. Dabei wird ihre Stimme zum Symptom des Schreis einer ganzen Generation, der sich aus der Verunsicherung einer Zeit produziert, in der eine Antwort nicht mehr aus dem Selbst kommen will. Das Echo dieser Selbstbefragung wirft sich immer wieder an den äußeren Trugbildern einer anonymen Masse zurück, die in ihrer Trägheit nichts mehr kann, als Daumen zu heben oder zu senken: wie damals im Amphitheater bedeuten diese Daumen auch heute Leben oder Tod des Individuums. Frei von Illusionen, einen legitimierten Formenkanon abarbeitend, rückt die Künstlerin die Verortung des Selbst in der Welt, aus der Schieflage einer wirkungsorientierten Gesamtheit wieder an den einzig möglichen Ort einer Auseinandersetzung: dem eigenen Vis-à-vis. Verallgemeinerung und Anonymisierung verdichtet sie hierfür zu einem viablen Ausdrucksmittel und versucht sich dadurch an einer möglichen Objektivierung der künstlerischen Aussage. Der serielle Charakter ihrer Werke wiederholt dieses Abarbeiten der immer gleichen Frage, betont die Rückkehr zur Erfahrung des Ich im Jetzt, die letztlich das Individuum konstituiert. Zwischen Pappfalten und Papierarbeiten spult Prevenda einen systematischen Abstraktionsprozess ab, der die Segmentierung des Selbst in kleinste, unteilbare, geschlechts- und kulturlose Einheiten nachahmt, gleichsam einem Kind, das zuerst durch Mimikry die Welt lernen muss, um sich dann später selbst zu erfahren: zerteilen, zusammensetzen, überlappen; zerteilen, zusammensetzen, überlappen. Und in eben dieser Collagenhaftigkeit, der Assemblage, entlarvt sich die betäubende Aktualität der Werke Prevendas: sie rekurriert zum einen auf ein Auseinander-Setzen des Ich, das schlussendlich für die Konstruktion der Individualität maßgebend ist. Zum anderen hält sie uns damit in aller Deutlichkeit die gefährliche Besessenheit, ja Sucht, nach den Bildern der Anderen vom eigenen Ich vor Augen, die sich dann zu einem vermeintlichen Selbstbild zusammenzwängen. So verblasst jedes Individuum als hohlen Kopie der Kopie, die irgendwo entfernt daran zu erinnern versucht, dass es einmal so etwas wie Eigenständigkeit gab. Wie sich aber aus dieser Zweidimensionalität lösen? ­Wer bin ich? Wo fängt Ich an und wo hört es auf? Bin ich ich, weil die Anderen nicht ich sind?…

Als Antithese zu Prevendas sukzessiver Anonymisierung im Kollektiv, lassen sich die Arbeiten Gabriela Culics im November des gleichen Jahres betrachten. Die Künstlerin holt den Selbstbezug und die Eigenreferenz zurück aufs Parkett und präsentiert das Ich als einen Zufluchtsort, der eigentlich nur mehr fernab von Technokratie und Mediendominanz, traumhaft zu erreichen ist. Rêverie zeigt das Schaffen einer Künstlerin, in deren pastuosen Weißnuancen Utopien warten und deren sublimer Ausdruck Harmonie bedeutet. Als Reminiszenz an eine Zeit, in der bloß der Wind und das Krächzen der Vögel die Stille einer menschenleeren Wirklichkeit durchbrechen und das Gleichgewicht der Welt als Urinstinkt in allem Lebendigen wohnt, erinnern die Werke Culics an eine Sehnsucht, die oft nur schwer zu deuten ist. Getragen von den Schwingen ihrer Vögel, schafft sie in ihren Arbeiten eine einzigartige Atmosphäre der Ruhe und Freiheit, in der nichts bedrohlich ist. Mit einem sanften, lauen Druck nimmt sie die Betrachtenden allmählich bei den Händen und führt sie fort, ganz leise, an einen Ort, der neben der alltäglichen Realität wartet und in dem nur ist, was sein muss – Geborgenheit. Sie führt jede/n Einzelne/n fort in ein Weltzeitalter, das gleichzeitig war und nie gewesen ist, von dem sie sich sicher sind, es zu kennen, aber es doch nicht behaupten können. Die Betrachtenden finden sich wieder in einer Urzeit, in der sie den Beginn allen Seins immer und immer wieder neu begreifen können. Wie ein geradezu paradoxer Gegenentwurf zu einer immer schneller werdenden, technisierten Gesellschaft, in der sich der Zeitbegriff schon aus dem Orbit eines narzisstischen Selbst-Verständnisses hinausgedreht hat, öffnet Gabriela Culic Fenster zu Welten, die, gleich Träumen, außerhalb jeder messbaren Zeit stehen und dieser auch gar nicht bedürfen. Gleich Träumen überlagern sich ihre Wirklichkeitsentwürfe in den vielen, zarten Schichten ihrer Leinwände, verweisen aufeinander, bedingen sich gegenseitig, bleiben aber trotz ihrer eleganten Komplexität nie undurchdringlich. Es ist nämlich immer das eigene Selbst, das in dem tiefen, universellen Harmoniebedürfnis ihrer Farbkompositionen einen richtungsweisenden Kompass durch den multidimensionalen Kosmos ihrer Arbeiten findet. Und dort an diesem Punkt jenseits von Raum und Zeit begegnen wir jener Sehnsucht erneut, jenem friedvollen inneren Streben, das wir nicht benennen wollen und es jetzt auch gar nicht mehr müssen; denn in diesem Augenblick verstehen wir die Welt. Und dann wird es plötzlich still. Der Nebel senkt sich wie eine wärmende Decke über den vom Sommer müde gewordenen Boden. Die Vögel treten noch einmal gegen die schwarze lehmige Erde des Winters, halten einen Moment inne ­ und heben ab. Ein Atemzug. Ein Flügelschlag noch und wir sind frei.

In den Arbeiten dieser beiden Künstlerinnen finden sich also zwei dichotome, grundverschiedene Positionen, die einander gerade durch ihre Gegensätzlichkeit innerhalb des gleichen Kosmos‘ bestätigen. Während auf der einen Seite das höchst zeitgemäße Bild einer gesichtslosen Gesellschaft als Folge einer freiwilligen Uniformierung im virtuellen Ersatz-Leben stark gemacht wird, provoziert die andere Seite den unverminderten Wunsch nach einer Zeit ohne all dem, nach einer Leere, die diese Fülle der anderen Seite verschluckt und in sich aufnimmt. Gegen die permanente Anspannung durch Aufmerksamkeit einer narzisstischen Selbstbetrachtung, stemmt sich die meditative Reflexion jener beseelten Befragung des Ich in seiner Umwelt, zu der Culic einlädt. Während die Eine das unterbewusst Selbstsüchtige, im Moment der Auseinandersetzung mit dem eigenen Wesen thematisiert, beschwichtigt die Andere das Ich zur Versenkung in einer wertfreien, unbelasteten Umgebung. Das Märchenhafte, Träumerische aus den Werken Gabriela Culics, das so sehr ein Fernweh hin zur Stille ist, liegt auf der Rückseite jener Realitäten und Störungen Florica Prevendas, die als Heimweh, die Freude am Bekannten – immer Gleichen -groß machen. Das wohltuende Übliche, ebenso wie das wundervolle Neue schieben beide Künstlerinnen zwischen die einzelnen Lagen und Schichten ihrer Kunstwerke. Bei Prevenda sind es die Überarbeitungen mit dickem, groben Karton oder dünnem, feinen Papiermaché, bei Culic die hauchzarten und pastuosen Schichten ihres Farbauftrags. Realität und Luftschloss zeigen sich immer mehr als Seiten der selben Medaille, der das Eigene, das Höchstpersönliche zum Material wird. Diese Bedingung des Ichs bringt sie in Rotation, unaufhörlich zeigt sie dabei bald die eine, bald die andere Seite. Und gleich einem Metronom gibt die Bewegung, eine Schrittfolge vor und das Ich beginnt langsam im Takt zu tanzen: zwei zurück, einen vorwärts, einen zur Seite, einen zurück … .

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