›Auf die Schärfe Eures Schwertes!‹. Zur Rüdiger Figur in Fritz Langs Film Die Nibelungen

erschienen in: 13. Pöchlarner Heldenliedgespräche, Bnd. 39. Hg. v. Johannes Keller, Florian Kragl und Stephan Müller, Wien 2019, S.195-207.

August 2018

Mit dem zweiteiligen Film Die Nibelungen legt Fritz Lang 1924 ein Epos in bewegten Bildern vor, das heute als größter Kassenerfolg des deutschen Kinos der Weimarer Republik gilt. Von Zeitgenossen für die visionären Spezialeffekte gelobt, kritisiert in Bezug auf seine Überlänge[1], wird der viragierte Stummfilm gegenwärtig von Rezipierenden als Monumentalwerk der reinen Fantastik[2] gehandelt, in dem die Figur Siegfrieds als »blonder deutscher Superheld«[3] gefeiert wird. Was sich hier zum einen problematisch hinsichtlich der Ideologiekritik[4] entwickelt, derer sich Film, Regisseur und nicht zuletzt die Drehbuchautorin spätestens seit den 1950er Jahren stellen müssen, verfehlt zum anderen die Grundästhetik der inszenierten Figuren, die für Lang im Sinne Nietzsches zwar Übermenschen sein sollten, jedoch zu Superhelden als Weltenrettern nicht taugen. Ihre »Überlebensgröße«, so Lang über die Protagonisten seines Films, liegt vielmehr »in den Ausmaßen [ihres] Empfindens und Handelns, auch da wo [sie] ganz klein, ganz schäbig [werden]«[5]. In der Konfrontation mit den »Urbegriffen alles Gefühls […]: Liebe und Haß, Treue und Verräterei, Freundschaft und Rache …«[6] zeige sich der Mensch prinzipiell in seiner emotionalen Grunddisposition, die ihn im 20. Jahrhundert »graduell anders, keineswegs prinzipiell verschieden« reagieren lässt. Im direkten Vergleich mit dem Text des 13. Jahrhunderts und dessen Fülle an Forschungsliteratur, die sich an der Bedeutung gesellschaftlicher Konventionen, rechtlicher Verpflichtungen und eines höfischen Wertekanons als handlungsstiftendes Moment abarbeiten, erscheint die Reduktion des Bezugsrahmens auf einen »graduell« divergierenden Handlungsspielraum auf den ersten Blick geradezu blasiert. Wird dieser Blick jedoch auf Annahme einer Interpretation des Textes durch die Übersetzung in die Sprache des Filmes gelenkt, so legitimiert sich Langs Haltung bald als produktive Rezeption, der es durch filmische Stilmittel und technische Kunstgriffe gelingen kann, unter gleichen Umständen dem Text ähnliche Effekte zu erzielen. Besonders eindrücklich lässt sich das an der Figur Rüdigers exemplifizieren, was sich unbestrittener Maßen bereits ihrer textuellen Tiefenschärfe verdankt: ohne den Rüdeger des ›Nibelungenlieds‹ wäre der Rüdiger Fritz Langs in seiner Charakterisierung undenkbar, nicht so sehr aufgrund einer kanonisierten dramatis personae, sondern weil die Figur des Films eine Modellierung ist, die zunächst einer Vorlage bedarf aus der sie sich aktualisieren kann. Wie sich diese Ausformung vollzieht und welche Kanäle dafür genutzt werden, soll der folgenden Auseinandersetzung als Basisthematik zugrunde gelegt werden, wobei die Wirkmächtigkeit filmischer narrativer Momente im Verhältnis zu jenen textuellen fokussiert wird. Anhand dreier Sequenzen soll gezeigt werden, welche Techniken das jeweilige Medium implementiert, um ein entsprechendes Ergebnis zu generieren. Die komparatistische Annäherung an diese Problemstellung wird eine Frage nach der Werktreue außer Acht lassen, denn diese war zum einen weder Fritz Langs noch Thea von Harbous Ziel und zum anderen ist es eben die Diskrepanz zwischen dem mittelhochdeutschen Text und der Inszenierung, die den Film in seiner kulturellen wie politischen Gegenwart verortet und ein Verhältnis zwischen Ästhetik und Ideologie des Regisseurs und seiner Zeit identifizierbar macht. Da der Nibelungenfilm Fritz Langs ausdrücklich nicht bloße Verfilmung des mittelhochdeutschen Texts zu sein sucht, sondern sich als Transposition des Mythos in das 20. Jahrhundert versteht[7], scheint eine Untersuchung der Übersetzung, der in den Film tradierten Erzählstrukturen der unterschiedlichen Überlieferungsvarianten[8] in die Zeichensprache des Films, vielversprechend.

Der Film als Medium stellt dem Narrativ ein völlig anders zu dechiffrierendes, visuelles, zum Teil auch nonverbales Zeichenrepertoire zur Verfügung, als ein Text. Gemeint sind Zeichen, die keinen Symbolcharakter besitzen, sondern integrativer Bestandteil der direkten Umwelt der Zusehenden sind. Durch diesen Rückgriff ist ein Film in der Lage die Distanz zwischen mimischem Reflex, einer Geste und dessen Rezeption auf eine zeitlich interferierende Unmittelbarkeit zu reduzieren. Die Mimik wird durch eine »gegenüber der Sprache weniger konventionelle […] subtilere und reichhaltigere Ausdruckform der ›gestischen Anspielung‹ ersetzt«[9]. Diese Leistung verdankt sich vornehmlich der performativen mit dem Körper inszenierten Nachahmung gültiger oder zumindest nachvollziehbarer Verhaltensnormen, -abnormen bzw. gesellschaftlicher Reglementierungen oder Widrigkeiten, die sich in einem gewissen, vom Publikum interaktional begreifbaren Rahmen abspielen[10] und ihre Wirkung in der Korrelation von Zeichen und Bedeutung entfalten. Gespiegelt wird eine Lebenswelt inklusive kulturspezifischer, nicht verbalisierter Zeichen, die Rezipierende mehr oder weniger mühelos entziffern können (sollten). Fritz Lang löst diese Notwendigkeit der Gleichschaltung von Sehen und Verstehen vom Narrativ und macht sie zur Grundbedingung für das Funktionieren seiner Bilder: »Es ist ganz gleichgültig, was ich im Film bringe, aber der Mensch von heute, der es sieht, muss es unmittelbar in Empfang nehmen können, und zwar in der gleichen Geschwindigkeit, in der die Filmbilder an seinem Auge vorüberlaufen. Ist dieser Kontakt unverletzlich vorhanden, dann verstehen sich Film und Publikum.«[11] Auf dieses Phänomen kann ein Text derart nicht zurückgreifen, denn er kann auf die Zurschaustellung des Körpers nur verbal rekurrieren, sie jedoch nicht abbilden. Anders verhält es sich mit von einem Körper unabhängigen Ikonogrammen, die Symbolcharakter haben: sie zu entziffern erfordert das gleiche Maß an Involvierung von den Zusehenden eines Films, wie von den Lesenden eines Texts. Die von Joachim Heinzle[12] im ›Nibelungenlied‹ identifizierten »Schau-Gesten« verwachsen zu einer Hybridform beider Konzepte und lassen sich ohne weiteres auf das Medium des Films anwenden: hierbei handelt es sich um das Aneinanderstellen von Gebärde und symbolträchtigem Kontext (z.B. Kriemhilds Fensterschau bei der Ankunft ihrer Brüder am Etzelhof in NL, B 1713)

Diesen Kontext erschafft Fritz Lang neu, als er den Handlungsraum des Films in vier scharf voneinander getrennte Sphären teilt und ihnen eine eigene Konnotation und Symbolkraft zuweist: »vier vollkommen in sich abgeschlossene, einander fast feindliche Welten, streng zu unterscheiden und jede in sich selbst zu einem Gipfel«[13] geführt. Die Welt von Worms, Kulisse einer »überfeinerten Kultur«; die Welt Siegfrieds als mythischer Ort, an dem er sein Schwert unter der Aufsicht Alberichs schmiedet und später den Drachen tötet; Brünhilds Isenland, Spielraum »verglast« wirkender Menschen und Etzels Reich, eine Sphäre, die eine Realisierung der Rache Kriemhilds ermöglicht.[14]

Außerhalb dieser rigoros voneinander getrennten Welten, die mit dem von Juri Lotman[15] geprägten Konzept der Semiosphären zu denken sind, wird dem Narrativ visuell kein zusätzlicher Raum zur Verfügung gestellt. Jede Grenzüberschreitung endet tödlich: für Siegfried, für Brünhild – sie begeht im Film Selbstmord –, für die Nibelungen und schließlich für Kriemhild. Die strikte Zuweisung zum eigenen Raum wird für jede einzelne Figur des Films, von der Entourage Brünhilds bis zu den Männermassen Etzels plausibel, mit einer Ausnahme: Rüdiger.[16] Der Markgraf hat keinen Ort innerer Zugehörigkeit in diesem Koordinatensystem, zumindest keinen der für die Zusehenden evident gemacht würde. Seine elegante Ausstattung und sein maßvoller Auftritt verwehren eine Zuweisung zum Etzelhof, der durch eine in der Sekundärliteratur vieldiskutierte Rohheit und Willkür markiert ist. Regina Toepfer[17] identifiziert die hier stattfindende »rassisierende Markierung« als Konsequenz der »nichthunnischen Abstammung«, die der Rüdeger des ›Nibelungenlieds‹ in seinem Selbstverständnis als Fremder, das in einem Akt der diffidatio zum Ausdruck kommt, als er in daz ellende zu gân (NL, B 2154) sich erbittet. Auch in Bezug auf den Hof in Worms möchte die optische Eingliederung in das in dunkle Stoffe gehüllte Reich der Burgunden nicht so recht an den goldschimmernden, im Licht gleißenden Plättchen seines Gewands haften bleiben. Rüdiger fungiert als Scharnier zwischen den Welten krasser Dichotomien und Stereotypisierungen. Er bewegt sich ausschließlich zwischen den Welten der Nibelungen und Etzels, die visuell unmittelbar an einander grenzen, ohne selbst Teil davon zu sein. Durch diesen gerafften Bewegungsraum wird Rüdiger als Grenzgänger[18] inszeniert, dessen Funktion der Prokuratur und Vermittlung eng an seine Motion gebunden ist: er kann für Etzel werben, weil er agil ist. Der Film operiert hier anders als der Text, kommt jedoch zu einem Ergebnis, das sich bloß in seiner Nuancierung unterscheidet: selbstverständlich vollzieht der Rüdeger des ›Nibelungenlieds‹ ebenso die für die Werbung notwendigen Ortswechsel, doch wird als Hauptmotor seiner Vermittlerfunktion primär sein diplomatisches Geschick ausgestellt:

Man sagt mînem herren,   Kriemhilt sî âne man,

her Sîfrit sî erstorben.    und ist daz sô getân,

welt ir ir des günnen,   sô sol si krône tragen

vor Etzeln recken.   Daz hiez ir mîn herre sagen. (NL B,1196)

In der Verwendung des neutralen Begriffs ›ersterben‹ in Bezug auf Siegfrieds Tod erkennt Joachim Splett das diplomatische Geschick des Markgrafen. Die Wortwahl soll eine allzu düstere Erinnerung an den umgekommenen Helden vermeiden. [19]

Er ist zur Prokuratur, nicht als Weltenwandler befähigt, sondern weil er »Inkorporation des Rechts, Repräsentant der Mannentreue, Träger also eines überpersönlichen Gemeinideals« [20] ist. Das sind Werte, die für die Inszenierung Fritz Langs keine maßgebende Rolle spielen. Allein aus der visuellen Vorführung ließe sich eine solche Attribuierung nicht extrahieren und doch gelangen beide Darstellungen zu dem Ziel Rüdeger als geeigneten Werber auszuweisen, sei es aufgrund seiner Talente als diplomatischer Mittler im ›Nibelungenlied‹ oder als Botschafter des Herrn der Welt, der in dem Moment, da Kriemhild Kenntnis über den verschwundenen Hort erlangt, am richtigen Ort ist. Peter Wapnewski charakterisiert den Markgrafen des ›Nibelungenlieds‹ »als Mensch des Zwischenlichts, eine Mittel- und Mittlerfigur«[21], was gerade vor dem Hintergrund der Ästhetik Fritz Langs bemerkenswert ist, der im Nibelungenfilm eine ausgeprägte Rezeptionsführung durch den Einsatz von Licht und Schatten vornimmt. Das Zwielicht ist für Lang dabei kein Moment des Dubiosen, sondern eines der Umwälzung und des Übergangs.

Zu dieser Umwälzung zählt auch die Lösung Kriemhilds aus dem festgesetzten Zeichensystem der burgundischen Welt des Films, die sich mit dem Eid Rüdigers finalisiert. Als sie von ihm fordert »Nicht auf das Kreuz, Herr Markgraf, – auf die Schärfe Eures Schwertes!«[22] zu schwören, erzielt sie auf der Ebene der Zeichen zweierlei: zum einen eliminiert sie jede Wirkmächtigkeit einer, durch das Kreuz symbolisierten, moralisch-ethischen Instanz im entscheidenden Moment, zum anderen stellt sie dessen zur Bedeutungslosigkeit verkümmerte Autorität in zumindest drei der vier Welten zur Schau. Das Kreuz hat keinen Wert und taugt selbst zum Ornament nicht. Als Rüdiger zum Schwur aufs Kreuz ansetzt, übersetzt Kriemhild diesen Akt zu einer inhaltsleeren Geste. In diesem Moment wird nicht nur der Fatalismus Kriemhilds semiotisiert, sondern auf der Zeichenebene auch die Unmöglichkeit Rüdigers vorweggenommen jemals Teil der Sphäre des Burgundenhofes zu sein, in dem das Kreuz gilt[23], obzwar es dort ähnlich wertlos erscheint.

Während Rüdigers Dilemma hier ausschließlich aus dem Schwur abgeleitet wird, fällt im ›Nibelungenlied‹ dem Einlösen des in Worms gegebenen Wortes ihr leit zu büezen (NL, B 1257,2) verhältnismäßig weniger Gewicht zu. [24] Es ist die »herrschaftliche Bindung« und »Pflicht gegenüber dem Lehensherrn Etzel«, die als »unausweichlicher Zwang« gilt und der zugunsten »die Bindung an die burgondischen vriunde aufgeopfert«[25] wird.

Was sich im ›Nibelungenlied‹ immer wieder in den epischen Vorausdeutungen an diversen Stellen ankündigt (v.a. im Pöchlarn-Idyll der 27. Âventiure) wird im Film zu einer Schwur-Gebärde zusammengezogen. Noch etwas geschieht: Die Tragik, die sich aus dem durch den Eid ausgelösten Dilemma ergibt, wird in der Forschung zum Text als eine von einem Seelenkonflikt durchdrungene Aporie identifiziert.[26] Helmut de Boor rückt diese vollständig ins Licht einer christlichen Konnotation, die im Falle der stofflichen Traditionen des Liedes nicht immer unproblematisch ist, als er Rüdeger im Augenblick des Unausweichlichen »eine Bedrohung seiner Seele und ihres Heiles« erkennen sieht und bestimmt in dessen Verhalten einen »echten Aufblick und Aufruf zu Gott«. Das Heil seiner Seele scheint zwar »durch seinen Entscheid zerstört« – es ist ihr »die Erhebung des Sieges im Tode«[27] versagt – doch führt ihn der Dichter durch sittliche Rechtfertigung (Schildgabe) in den Kreis der Heroen zurück und alle Figuren können ihrem unausweichlichen Schicksal ohne Wertverlust begegnen.[28] Entscheidend ist, dass für Rüdeger am Ende Tränen vergossen werden, weil er beispielgebend mit dieser unlöslichen Situation umgeht.[29] In den anschließenden Schilderungen der Klage fällt Hildebrand nach dem Ende des Kampfes bei der Bergung Rüdegers sogar in Ohnmacht. Gefeiert wird er letztlich nicht von jenen, denen er sich durch Treue verpflichtet hat, sondern von jenen, »denen er die vriunde totschlug« und »freiwillig seine Großzügigkeit erwies« [30]. Im Film spielt sein wertegebundenes Verhalten kaum eine Rolle und er wird derart auch nicht rehabilitiert. Auch sein Seelenkonflikt entfällt im Moment des Eides, der anstelle der moralischen Größe in Gottes Namen auf die weltliche Kampfkraft des Markgrafen abzielt. Im Moment da Kriemhild den Schwur einlöst, wird nicht, wie im ›Nibelungenlied‹, eine »Kultur der Schande« aktiv, sondern jene des »schlechten Gewissens«[31]. Dadurch ist das Dilemma Rüdegers im 20. Jahrhundert angekommen und verwehrt der filmischen Variation des Markgrafen, den Überschwang des Sieges im Tod.

Bevor diese Betrachtung mit dem Filmtod des darin inszenierten Rüdigers enden muss, ist es notwendig zuvor noch einen Blick auf jene Sequenz zu werfen, welche die Hauptlast der Tragik des Kampfes Rüdigers gegen die Nibelungen zu tragen hat: die von zwei Zwischentiteln umklammerten, vierundvierzig Sekunden des Films, in denen Rüdiger Dietlind und Giselher vermählt.

Wie bereits erwähnt, wird Rüdiger keine eigens abgegrenzte topographische Sphäre zugestanden. Die räumlich-visuellen Ordnungsprinzipien des Films entziehen ihn der einzelnen psychologischen Inhalte, die durch die spezielle Sprachform des Films transportiert werden.[32] Die scharf getrennte Vierteilung der Welt scheint somit den Chronotopos Pöchlarn in seiner ganzen Tragweite, wie er im ›Nibelungenlied‹ gezeichnet ist, unmöglich zu machen. Und doch bleibt dieser, in einem vorangegangenen Zwischentitel[33] als Pöchlarn verortete Raum, auch im Film Chronotopos: Es ist der Raum, in dem Rüdiger sich selbst durch die Vermählung seiner Tochter an die Burgunden bindet. Die Räumlichkeit legitimiert durch ihre Verankerung im anerkannten System der ›kirchlichen‹ Vermählung die zeichenhaften Gesten Rüdegers, die ihn zum Schwiegervater machen und in den Personenverband der Burgunden eingliedern. Mehr ist für Fritz Langs Inszenierung auch nicht nötig. Diese Sequenz funktioniert ausschließlich über den ortsgebundenen rituellen Charakter einer Heirat, wie sie im beginnenden 20. Jahrhundert stattgefunden haben könnte und die gestisch weit weniger komplex ist, als eine vormoderne. Weil für die kommenden, Rüdiger betreffenden Ereignisse diese Verehelichung das relevante Moment ist, kann Pöchlarn als logischer Zwischenraum auf eine enge Halle reduziert und als Scharnier zwischen den Semiosphären Burgundenhof und Etzels Palast funktionalisiert werden. Strenggenommen ist der gezeigte Raum semiotisch nicht als Kirchenraum aufgeladen: es befinden sich keine christlich-ikonographischen Indizien darin und viel mehr noch intensiviert der Umstand, dass gerade Rüdeger die Vermählung mittels einer konventionalisierten Geste inklusive profaner Ornamentik durchführt, den Charakter eines säkularisierten Rituals. Durch die Muster wird der »Eindruck der unwiderstehlichen Macht des Schicksals«[34] intensiviert, das deterministisch gesehen einer christlich-religiösen Konnotation zusätzlich jeder Grundlage entbehrt.

Trotz der topographischen Markierung der Halle als zu Pöchlarn gehörig, sei es durch den erwähnten Zwischentitel, sei es durch Weltwissen, entsteht durch die Einbettung dieser Szene in eine Analepse, die immer wieder auf Etzels Thronsaal rekurriert, der Eindruck von Separiertheit. Das ist zum einen in der visuellen Kluft zwischen den infantilisierten Ausführungen Bloadels am rassisierten Etzelhof und des zeichenschweren Zeremoniells in einem örtlichen Gegenentwurf begründet. Zum anderen wird diese Wahrnehmung durch die Kameraeinstellungen gelenkt, die den gesamten Raum lediglich fünfzehn Sekunden lang in einer Totalaufnahme zeigt, um dann von einer Naheinstellung auf das kniende Brautpaar in ein Close-up ihrer beiden Hände überzugehen und anschließend ein Bild in Halbnaheinstellung zu zeigen, das die Eheleute und Rüdeger vorführt, ohne den Raum noch einmal in seiner Gesamtheit zu inkludieren. Dietlind ist die einzige der drei Figuren, die durch sich selbst einen direkten Bezug zur räumlichen Umgebung herstellen kann. Da ihre Persona, anders als die ihres Vaters, nur im Ort Pöchlarn existiert, ist ihr Körper in dieser Sequenz auf der Zeichenebene nicht nur Vertragsgrundlage eines Bündnisses, das Rüdiger eine eindeutige, weil nun verschwägerte, Zugehörigkeit verschafft, sondern zugleich Ikonogramm seiner Markgrafschaft. Sie fixiert diese Trauung räumlich und nimmt damit auch die Unrealisierbarkeit vorweg, die sich durch das örtliche Entziehen Giselherrs ankündigt. Durch das Überschreiten des Grenzraums wird, der Logik des Films folgend, die Katastrophe in Gang gesetzt, die auch für Giselherr tödlich enden muss.[35]

Mittels dieser lieblich inszenierten Vermählungsszene wird die Rezeption Rüdigers von Lang in eine Bahn gelenkt, die seinen späteren Konflikt zu einer sehr eindeutigen Wertung bringt und wie sich nun zeigen wird, maßgeblich die Rezeption seiner Figur begründet.

Der Film spart den wesentlichen Teil der 27. Âventiure aus, ohne dabei einen chronotopischen Charakter einbüßen zu müßen. Nun stellt sich die Frage, wie der Regisseur die Fallhöhe, die im Text qua Pöchlarn-Idyll generiert wird, einzuholen vermag? Rüdiger wird im Film weder als großzügiger Gastgeber gezeigt, noch wird in epischen Vorausdeutungen eine Kluft zwischen dem gezeichneten Idyll und dem prospektiven Tod des Helden deutlich. Es gibt auch keine Ankündigung eines Genozids, die ihre maximale Wirkung im Nahverhältnis zu den positiven Ereignissen der Einkehr in Pöchlarn entfalten könnte. Prinzipiell gibt es im zweiten Teil des Films keine Vorausdeutungen, die »jene große Geschehnislinie des Epos rückschreitend vom Ende bis zur ersten Ursache (Anm.: umreißen)«[36]. Trotzdem gelingt es Fritz Lang eine Tragik zu generieren, die in ihrer Entfaltung in keiner Konkurrenz zum Raffinement des Passauer Dichters steht, als interpretierende Adaption jedoch eine interessante Frage aufwirft.

Nachdem Rüdiger dem Kampf beitritt und die fassungslosen Burgunden zum Kampf auffordert, greift er Hagen an, erschlägt den sich dazwischen werfenden Giselherr und wird anschließend von Volker getötet. Das hier inszenierte Unglück der Ermordung des Schwiegersohnes speist sich ausschließlich aus der vorher besprochenen Vermählungssequenz. Der mittelhochdeutsche Text verfährt grundlegend anders: Die Bewertung, die Rüdeger vom Dichter während seines Beisammenseins mit den Burgunden in Pöchlarn erfährt, ist entscheidend für das Unheil des letzten Kampfes. Als großzügiger und milter Gastgeber (NL, B 1688) schenkt er Gernot das Schwert, mit dem dieser ersteren in der 37. Âventiure erschlagen wird. Jochen Splett[37] identifiziert gerade in Rüdegers Güte und Hilfsbereitschaft die innere Projektionsfläche seines seelischen Konflikts. Seine Freigiebigkeit wird ihm zu Verhängnis. Die »innere Entwicklung des Rüdigerkonflikts«[38], wie sie in der Pöchlarn-Episode initiiert wird, plausibilisiert mitunter auch die letzte große Geste der Schildgabe:

Vil gerne ich dir waere     guot mit mînem schilde,
torst ich dirn bieten        vor Krimhilde. 
doch nim du in hin, Hagene   unt trag in an der hant. 
Hey, soldestu in füeren     heim in der Burgonden lant! (NL, B 2193)

Mit dem Schild gibt Rüdeger Hagen nicht nur die Freundestreue zurück[39], sondern überlässt ihm damit auch seinen eigenen Schutz. Zusammen mit dem Schwert, das er Gernot zuvor gegeben hat und von dem Rüdeger sagt:

Das ist mir nie geswichen   in aller dirre nôt.  
under sînen ecken   lît manic ritter tôt.  
ez ist lûter unde staete,   hêrlich und guot.  
ich waene, sô rîcher gâbe   ein recke nimmer mêr getuot. (NL, B 2182)

stellt er alle Weichen für ein würdiges Sterben in einem ehrenhaften Kampf, den er unter diesen Umständen nicht gewinnen kann. Der Dank der Beschenkten wird schlussendlich die Tötung des Schenkenden sein.[40]

Während Rüdeger also durch sein eigenes Schwert erschlagen, gleichzeitig mit Gernot stirbt, bringt er im Nibelungenfilm seinen Schwiegersohn um. Die Divergenz der Wirkmacht der Bilder beider Szenarien liegt auf der Hand: Sterben durch das eigene Schwert einerseits und Mord am Schwiegersohn andererseits. Mit dieser Interpretation der Bedeutung Rüdigers für den letzten Teil der Handlung richtet der Film eine interessante Frage an den Text: Ist in der Gesellschaft des Mittelalters das Sterben durch die von fremder Hand geführte, eigene Waffe der äußerste tragische Moment, der einer Figur mit der tugendhaften Ausstattung Rüdegers widerfahren kann? Woran sich vice versa sofort anknüpft, ob es überhaupt in der Zeichenwelt des beginnenden 20. Jahrhunderts eine dementsprechend tragische Konnotation des Todes durch das eigene Schwert abseits der Ironie gäbe? Ob und wie diese Fragen zu beantworten sind, sei einer eigenen Auseinandersetzung vorbehalten.

Die Figur Rüdigers wird weder durch das Drehbuch Thea von Harbous noch durch Fritz Langs Inszenierung im Nibelungenfilm mit jener Plastizität und jenem Detailgrad angefertigt, wie es Rüdeger durch den Passauer Dichter um 1200 erfahren hat. Das zu erreichen war jedoch weder Ziel des Regisseurs, noch der Autorin: »Das Wesen des Films – ich möchte dies immer wieder feststellen – ist nur dann überzeugend und eindringlich, wenn es sich mit dem Wesen der Zeit deckt, aus der dieser geboren wurde.« [41] Vor allem Lang suchte danach Menschentypen seiner Zeit zu überzeichnen und zu übersteuern, woraus sich auch eine notwendige Transposition der inner- und interpersonellen Konflikte auf eine zeitgenössische allgemein gültige und gleichzeitig stilisierbare Ebene ergab. Um das zu gewährleisten musste sowohl die Logik umgestellt, als auch die großen »Urbegriffe alles Gefühls«[42] in das emotionale Encadrement des 20. Jahrhunderts überführt werden, was ihnen, so lässt sich aus dem Film deduzieren, einiges an Subtilität und Tragweite abverlangt hat: Rache ist bloß Rache, Hass bloß Hass, Liebe bloß weißer Kitsch unter blühenden Bäumen und der Tod ist das Ende. Es fehlt die Nuancierung. Selbstverständlich haben auch im Film zuletzt alle ihr Leben gelassen, mit Brünhild ist sogar einer mehr zu verzeichnen, doch keiner dieser Tode ist ein Heldentod – selbst jener Siegfrieds will nicht recht als solcher gelten: und das ist das Ziel. Mittels Bildsprache und Zeichenhaftigkeit zieht der Film das Programm Langs durch und kann das Narrativ neu in seine Zeit einschreiben. Rüdiger muss kein Diplomat sein, um sein Ziel zu erreichen, es genügt, wenn er sich und seinen Körper zum Dienst verpflichtet. Auch auf das Pöchlarn-Idyll ist er nicht angewiesen, da sich die Entsprechung der sich hier für ihn aufbauenden Fallhöhe in der Ermordung des Schwiegersohns findet, womit auch der Tod durch das eigene Schwert obsolet wird. Er stirbt keinen Heldentod, denn Fritz Langs Nibelungenfilm bedarf keiner Helden, bloß Körper als Projektionsflächen. »Es gibt keine Menschen von heute oder von damals… Es gibt nur Menschen. Die Unterschiede, die aus den Jahrhunderten entstanden sind, verschwinden zu nichts«.[43]

Der Rüdiger des Nibelungenfilms ist anders als dessen archaisches Alter Ego keine Figur, die Basis einer idolisierenden Identifizierung sein kann. Er ist vielmehr der Inbegriff eines gehorsamen Untergebenen, der auf die emotionale Klaviatur ähnlich Untergebener im zusehenden Publikum reflektiert. Die Ausweglosigkeit per se bleibt für Vorlage und Variation die gleiche, was sich ändert ist die persönliche Konfrontation mit zeitgenössischen Werten und sozialen Normen, die der Bedeutung der komplexen Figur Rüdegers ihr Drehmoment verleiht und im Lichte dessen die Figur Fritz Langs eindimensional wirkt. Wie sich gezeigt hat, sind Simplifizierung und Zeichenhaftigkeit des Films jene Stilelemente, mittels derer der Film das Narrativ in seiner Gegenwart einschreiben kann und als konvexer Spiegel des Passauer ›Nibelungenlieds‹ andere Perspektiven auf den Text gewährt. In der Vereinfachung liegt eine unauflösliche Rückbindung an die ursprüngliche Form verborgen, die ihre Wirksamkeit erst im Vergleich vollständig offenbart: so gilt auch für Rüdiger, dass er ohne Rüdeger bloß das halbe Bild zu zeigen vermag.


[1] »Die Decla sollte Augenärzte befragen, ob nicht nach zwei Stunden, auch des allerschönsten Filmes, eine physische Ermüdung des Auges eintritt, gegen die auch der visionärste Regisseur vergebens ankämpft«. S. Großmann, Der Nibelungenfilm, in: Der Montag-Morgen Nr. 7, Berlin 18. Februar, 1924, S. 2, zitiert nach: A. Wirwalski, »Wie macht man einen Regenbogen?«. Fritz Langs Nibelungenfilm, Frankfurt am Main 1994, S. 29.

[2] Vgl. diverse Forenbeiträge des Internet u.a. amazon.at; Suchbegriff: Fritz Lang Die Nibelungen, letzter Zugriff: 12.06.18, 13:42.

[3] R. Suchsland, Von Caligari zu Hitler. Das Deutsche Kino im Zeitalter der Massen. Dokumentarfilm 2014, 00:44:14–00:45:24.

[4] Siefried Kracauer analysiert 1947 in seinen Untersuchungen zum Nibelungenfilm Fritz Langs die leitmotivartige Inszenierung der Schauspieler, Figuren und der Masse als Ornamente und identifiziert hierin eine Übertragung faschistischen Gedankenguts, das sich mitunter den »unterwürfigen Menschen zu gefälligen Mustern anordnet«. S. Kracauer, Von Caligari zu Hitler, Frankfurt am Main 1984, S. 103.

Die analytisch-kritischen Stimmen aktueller Analysen beziehen sich auf die stark stereotypisierte Zeichnung der einzelnen Charaktere und die nationalistische Ausrichtung des gesamten Films.

[5] Vgl. F. Gehler, U. Kasten, Fritz Lang. Die Stimme von Metropolis. Berlin 1990, S. 61.

[6] F. Lang, Stilwille im Film, in: Jugend Nr. 3, München 1. Februar, 1924, zitiert nach: Gehler, Kasten [Anm. 4], S. 95.

[7] Vgl. ebd., S. 171.

[8] Vgl. H. Heller, Man stellt Denkmäler nicht auf den Asphalt. Fritz Langs Nibelungenfilm, in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von J. Heinzle, A. Waldschmidt, Frankfurt am Main 1991, S. 351–369, hier S. 355.

[9] E. Rohmer, Film, eine Kunst der Raumorganisation, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hg. von J. Dünne, S. Günzel, Frankfurt am Main 72012, S. 515–528, hier S. 519.

[10] vgl. ebd.

[11] F. Lang, Kitsch – Sensation – Kultur und Film, in: Gehler, Kasten [Anm. 4], S. 202–206, hier S. 204.

[12] Vgl. J. Heinzle, Zweimal Hagen oder: Rezeption als Sinnstellung, in: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von J. Heinzle, A. Waldschmidt, Frankfurt am Main 1991, S. 21–43, hier S. 24.

[13] F. Lang, Worauf es beim Nibelungen-Film ankam, in: Gehler, Kasten [Anm. 4], S. 170–174, hier S. 171.

[14] Ebd., S. 172.

[15] J. Lotman, Die Innenwelt des Denkens, Frankfurt am Main 22017, S. 163–174.

[16] Streng genommen gilt dies auch für Dietlind, doch wird sich zu einem späteren Zeitpunkt entfalten, wie sich ihre Funktion von einer figurativen in eine symbolische transponiert und sie zum Ikonogramm für den Ort Bechelaren transformiert.

[17] R. Toepfer, Die Frauen von Bechelaren, in: Durchkreuzte Helden. Das Nibelungenlied und Fritz Langs Film Die Nibelungen im Licht der Intersektionalitätsforschung, hg. von A. Lembke, A. Krass, N. Bedekovic, Bielefeld 2014, S.211–238, hier S. 220.

[18] Vgl. ebd., S. 224.

[19] Vgl. J. Splett, Rüdiger von Bechelaren. Studien zum zweiten Teil des Nibelungenliedes, Heidelberg 1968, S. 48.

[20] P. Wapnewski, Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des Nibelungenliedes, in: Nibelungenlied und Kudrun, hg. von H. Rupp, Darmstadt 1976, S. 134–178, S. 174.

[21] Ebd.

[22] »Länger denn einen Mond verweilten Deine Brüder als Gäste Rüdigers zu Bechlarn.« F. Lang, Die Nibelungen Teil II: Kriemhilds Rache, Restaurierte Fassung, Stiftung Murnau, 00:15:40.

[23] Als Brünhild zur Vermählung mit Gunther vor den Münster geführt wird, erhebt ein Geistlicher auf den Treppen über ihnen stehend, ein Kreuz. F. Lang, Die Nibelungen Teil I: Siegfried, Restaurierte Fassung, Stiftung Murnau, 01:11:00.

[24] Vgl. J. D. Müller, Nibelungische Gesellschaft, in: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenlieds, hg. von J.D. Müller, Tübingen 1998, S. 153–200, hier S. 161.

[25] Ebd.

[26] H. de Boor, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2, München 111991, S. 158.

[27] Ebd, S. 158f.

[28] Vgl. ebd.

[29] Vgl. ebd. S. 162.

[30] Vgl. ebd. S. 163.

[31] Vgl. G. Jones, Rüdiger’s Dilemma, in: Studies in Philology 57 / 1 (1960), 7–21, hier S. 11.

[32] Vgl. E. Rohmer [Anm. 9], S. 525.

[33] F. Lang [Anm. 15], 00:51:09.

[34] S. Kracauer, Von Caligari zu Hitler, Frankfurt am Main 1984, S. 103.

[35] Vgl. N. Roth, Erste Begegnungen. Paarbeziehungen und Grenzüberschreitungen im Nibelungenlied, sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film die Nibelungen, in: Durchkreuzte Helden. Das Nibelungenlied und Fritz Langs Film Die Nibelungen im Licht der Intersektionalitätsforschung, hg. von A. Lembke, A. Krass, N. Bedekovic, Bielefeld 2014, S. 189–206, hier S. 208.

[36] S. Beyschlag, Die Funktion der Epischen Vorausdeutung im Aufbau des Nibelungenliedes, in: PBB 76 (1955) 38–55, hier S. 39.

[37] J. Splett [Anm. 20], S. 59.

[38] Ebd., S. 66.

[39] H. Naumann, Höfische Symbolik. I. Rüdegers Tod, DVjs 10 (1932) 387–403, hier S. 393.

[40] Vgl. Wapnewski [Anm. 13], S. 155.

[41] F. Lang [Anm. 8], S. 204.

[42] Siehe [Anm. 6].

[43] Vgl. Gehler, Kasten [Anm. 5], S. 95.

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